Warum viele Journalisten der Polizei alles glauben

Lorenz Matzat
2 min readJul 4, 2017

Wie das Konstrukt der “privilegierten Quelle” der Glaubwürdigkeit der Presse schadet

Für uns ist die Polizei eine verlässliche Quelle. Das schrieb unlängst die Berliner Zeitung auf ihrem Twitter-Account. Sie hatte die Aussage der Berliner Polizei, dass bei einer Häuserräumung angeblich ein Türknauf von Protestierenden unter Strom gesetzt worden sei, unhinterfragt verbreitet. Einige Tage später berichtete die Zeitung, dass dem nicht so gewesen sei (ohne auf ihre eigene falsche Berichterstattung einzugehen).

Zahllose Beispiele dieser Art gibt es. Man denke nur an die NSU-Morde: Nahezu die gesamte Presse zweifelte über Jahre hinweg nicht das rassistische Narrativ der Sicherheitsbehörden über die „Dönermorde“ an. Oder man erinnere sich an die Silvesternacht 2015/2016: Die Kölner Polizei log nach Strich und Faden. Ein Jahr später tat sie dasselbe und was tat der Großteil der Presse? Glaubte wieder jedes Wort — etwa die Lüge über die hunderten, wenn nicht tausenden “Nordafrikaner”, die angeblich zum Domplatz strebten (es war eine Handvoll). Jetzt, in den Tagen des G20-Gipfels in Hamburg, dürfte wieder ähnliches zu beobachten sein. Erinnern Sie sich nur an die Clowns, die bei den Protesten 2007 gegen die G8 in Heiligendamm die Polizei mit Säurespritzen angriffen haben sollen.

Nun muss man verstehen: Vielen Journalistenschülern und Volontären wird das Konstrukt der „privilegierten Quelle“ beigebracht. Zwar heißt es im Pressekodex und in ähnlicher Form in den Landespressegesetzen:

„Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben.“

Doch, so schreibt es die Hochschullehrerin Kerstin Liesem in einer Aufsatzsammlung:

„Dabei hat die Rechtsprechung einige Quellen privilegiert. Das bedeutet, dass ein Journalist auch dann nicht haften muss, wenn sich ein Verdacht später als unbegründet herausstellt. Privilegiert sind zum Beispiel Mitteilungen von Regierungen, Behörden, Staatsanwaltschaften und Gerichten.“

Wohlgemerkt: Es handelt sich hierbei um eine aus einigen Urteilen abgeleitete Regel, keine Gesetzmäßigkeit. (Ähnlich gibt es ein Agenturprivileg, das Redaktionen erlaubt, die Meldungen von Presseagenturen ungeprüft zu übernehmen — was übrigens nicht gilt, wenn eine Agentur wiederum nur aus anderen Zeitungen abschreibt).

Es ist zwar nachvollziehbar, dass es bequem für Redaktionen ist, nicht jede Polizeimeldung über einen Autounfall nachrecherchieren zu müssen. Doch wie kann eine Presse behaupten, sie sei frei und unabhängig, wenn sie staatliche Quellen nicht gleich behandelt wie alle anderen auch? Ist ihr nicht klar, dass sie funktionalisiert wird? Nämlich von der Seite, die von der ungefilterten Weitergabe und dem Nicht-Hinterfragen ihrer Mitteilungen profitiert.

Es sollte doch mindestens gelten, dass diese Regel für staatliche Akteure, die wie die Polizei bei G20 unmittelbar Partei in einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist, nicht angewandt werden darf. Auch wenn sie noch so gut Pressearbeit bei Twitter und Co. macht. Wie wollen Journalisten sonst ihre Glaubwürdigkeit wahren?

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