Das Märchen vom Lokaljournalismus
Wie 2030 Berichterstattung auf kommunaler Ebene öffentlich-rechtlich organisiert wird
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Es waren einmal Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl im Jahr 2017. CDU, CSU, FDP und Grüne einigten sich schließlich im Koalitionsvertrag darauf, den Lokaljournalismus als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Denn der freie Markt zeigte sich immer weniger in der Lage, eine flächendeckende Berichterstattung zu gewährleisten. Lokaljournalismus auf kommunaler Ebene wurde also als Auftrag des Öffentlich-Rechtlichen “Rundfunks” anerkannt. Um die Umsetzung dieses Auftrages zu finanzieren, wurde die Schließung und Abwicklung des ZDF bis 2025 geplant.
2019 war es soweit: In acht Pilotregionen begann die Arbeit der ersten öffentlich-rechtlichen Lokalteams. Diese Piloten — teilweise in ländlichen Gegenden, teilweise in urbanen — konzentrierten sich erst einmal darauf, die Bedürfnisse der Bevölkerung — ihrer „Leserschaft — zu ergründen, um dann entsprechende Formate zu entwickeln; ihre Arbeitsweise und Wirkung wurde durch Teams aus Wissenschaftlern, journalistischen Praktikern, IT-Spezialisten und Ausbildern begleitet und erkundet.
Anhand der Erkenntnisse aus den Pilotregionen begann dann zum einem die Einrichtung von einigen über die Republik verteilten Ausbildungszentren. Dort wurden unter anderem ein Teil der ZDF-Mitarbeiter nach und nach umgeschult. Im Laufe der Zeit erhielten diese Zentren aber Aufgaben darüberhinaus: Sie dienten der Fortbildung, aber auch des Austausches von Best-Practices zwischen den Teams. Weiter fungierten sie als Schnittstelle zu den Landesanstalten der ARD, als Knotenpunkte für Recherchekooperationen über kommunale Grenzen hinaus sowie für die Organisation der Mitarbeitervertretung.
Zum anderen begann anhand der Erkenntnisse aus den Piloten der Aufbau weiterer Lokalteam-Regionen ab 2020. Als Bezugsrahmen für diese lokaljournalistischen Einheiten fungierten die rund 400 Landkreise und kreisfreien Städte der Bundesrepublik. Als Faustregel galt: Pro 10.000 Einwohner wurde ein Journalist vorgesehen (in Kreisen und Städten mit über 300.000 Einwohner wurde dieser Schlüssel auf 15.000 EW erhöht). Mindestens aber sollten 10 Journalisten pro Landkreis/Stadt arbeiten (rund 20 Landkreise in Dtl. haben zum Teil deutlich unter 100.000 EW). Jedes der Teams bekam dazu Mitarbeiter zum Management des Redaktionsalltags und IT-Spezialisten. Zudem wurden sie mit Technologie, Räumlichkeiten und Fahrzeugen ausgestattet. Stellenausschreibungen, Lohnbuchhaltung etc. wurden über die jeweilige regionale ARD-Sendeanstalt abgewickelt.
Selbstredend stieß das Vorhaben auf Widerstand bei den privatwirtschaftlich betriebenen Verlagen (und manchen Lokalpolitikern sowie Vertretern von Interessengruppen). Es gab Klagen gegen die entsprechenden neuen Rundfunkstaatsverträge auf Bundes- und Landesebene. Zum Teil erstreckten sich diese Verfahren über zahlreiche Jahre und mehrere Instanzen hinweg. Im Großen und Ganzen wiesen die Gerichte die Klagen schließlich zurück. Durch Druckkostenzuschüsse, finanzielle Hilfe beim Übergang vom täglichen Erscheinen zur Wochenzeitung, durch Übernahme von Mitarbeitern und komplette Aufkäufe, wurden Einigungen mit bestehenden Tageszeitungs-Verlagen getroffen. Im Jahr 2030 erschienen mehr als 3/4 der Lokalzeitungen, die 2017 noch vorhanden waren, nicht mehr.
Die öffentlich-rechtlichen Lokalredaktionen veröffentlichen ihre Arbeiten im Internet in allen möglichen Formaten und Medienformen unter einer Creative Commons-Lizenz (in manchen Regionen wurden auch noch klassische Radiofrequenzen und Fernsehkanäle bedient). Die dafür notwendige Software wurde nach und nach auf Open Source-Produkte aus einer zentralen Entwicklungsabteilung umgestellt; zudem wurden z.B. auf die Zusammenarbeit mit Communities der Wikipedia und OpenStreetMap gesetzt, um digitale lokale Dienste für den Alltag (Verkehr, Kultur, Sport, Bildung, Gesundheit, Entsorgung, Wetter usw.) und Lokalpolitik (via Ratsinformationssyteme, RIS) anbieten zu können
Durch Förderprogramme aus öffentlich-rechtlichen Mitteln und Kooperationen erhielt so die „Civic Tech“-Szene neuen Schwung: Diverse digitale Dienste rund um Lokalpolitik und Verwaltung konnten sich in diesem neu entstehenden medialen Ökosystem erfolgreich behaupten. Insgesamt erhielt die Kommunalpolitik eine bedeutenderen Stellenwert in der Öffentlichkeit. Nicht zuletzt dadurch, dass die Lokalteams verpflichtet waren, Stadtratssitzungen etc. live zu übertragen und aufzuzeichnen. Gleichzeitig wurden neue Formate der Kommunikation zwischen lokalen Regierungen, Politikern, Verwaltungen und Bürgern etabliert. Zwar spielten die kommerziellen social media-Plattformen weiter eine wichtige Rolle. Doch konnten durch die öffentlich-rechtliche Unterstützung nicht-kommerzielle Alternativen an Bedeutung gewinnen.
Wichtiger Baustein dieser neuen lokalen politischen Kultur waren die Beiräte, die für die Lokalteams installiert wurden. Diese Räte bestanden je nach Größe der Lokalteams aus fünf bis zehn Mitgliedern und wurden gleichzeitig mit den Kommunalwahlen gewählt. Sie wurden mit einigen Geldmitteln und Infrastruktur (Büros usw.) ausgestattet. Parteifunktionäre/-amtsinhaber durften nicht für sie kandidieren. Die Beiräte tagten regelmäßig öffentlich und übten ihre Tätigkeit mit größtmöglicher Transparenz aus. Sie waren Anlaufstelle für Beschwerden. Vor allem standen sie als Garant für die Unabhängigkeit der Lokalteams. Denn sie dienten als Puffer zu den diversen Interessengruppen in den Regionen und wirkten durch solidarische Kritik als Qualitätskontrolle. Das Zusammenspiel zwischen Beiräten und Lokalteams funktionierte in manchen Regionen mal besser, mal schlechter. So gab es den ein oder anderen Korruptionsskandal zu beklagen wie auch gelungene Versuche von Einflussnahme von Parteien und Lobbygruppen.
Abgesehen davon, waren 2030 der Großteil der Bevölkerungen — aber auch fast alle Parteien — der Meinung, dass die Einführung der Lokalteams ein gesamtgesellschaftlicher Gewinn gewesen sei. Den verschwundenen Tageszeitungen und auch dem ZDF weinte kaum jemand eine Träne nach.
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