Das Ding mit dem Journalismus

Lorenz Matzat
4 min readMay 8, 2019

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Journalismus des bedruckten Papiers

»Es braucht einen neuen Journalismus. Den Journalismus der Dinge.« So
steht es in der Einleitung des heute erschienenen »Manifests für einen Journalismus der Dinge — Strategien für den Journalismus 4.0«. Es handelt sich um Version 1 und will ein Diskussionsvorschlag sein.

Auf den ersten Blick ist klar, dass »Journalismus der Dinge« auf das »Internet der Dinge« anspielt (IoT — Internet of Things). Folglich wird IoT im zweiten Satz der Präambel des Manifests prominent angeführt. Es wird aber auch auf den ersten Blick klar, dass dieses Wortspiel nicht weit trägt. Genauso wie niemand vom »Journalismus der Kamera«, »Journalismus der Stifte« oder »Journalismus der Lautsprecher« spricht, ist auch bei Dingen der Genitiv fehl am Platz — Journalismus wird nicht von Dingen gemacht. Er wird von Menschen gemacht, die dafür Dinge verwenden, um zum Beispiel über Dinge zu berichten.

Abgesehen von der in meinen Augen untauglichen Begrifflichkeit selbst, machen die zehn Thesen des Manifests auch deutlich, dass dieser »Journalismus der Dinge« kaum klar zu definieren ist: Vielmehr ist es der Versuch, diverse bereits bestehende Methoden und Genres von Journalismus unter einen Hut zu bringen. Was legitim wäre, böte es ein Mehrwert oder würde es helfen, ein bislang unbekanntes Phänomen oder Methodenset zu beschreiben. Damit etwa im Diskurs über Journalismus als gesellschaftliche Kraft notwendige neue Perspektiven aufgemacht werden können oder die Selbstverständigung besser gelingt.

Die Autor*innen des Manifests scheinen davon überzeugt, dass diese Notwendigkeit bestünde: Weil immer mehr Geräte und »Dinge« miteinander vernetzt seien (»Drohnen, Sprachassistenten, Fitnesstracker, Satelliten, Kameras, Luft-, PH- oder Abstandssensoren«) und diese »so verfügbar und billig wie nie zuvor« seien, würde dieser »neue Journalismus« benötigt. Denn: »Das Internet der Dinge verändert die Welt grundlegend.« Diese Entwicklung habe »langfristige Folgen für Gesellschaft, Umwelt und die Verteilung von Macht«. Der »Journalismus der Dinge« soll ermöglichen, »diese Entwicklungen sowohl kritisch begleiten als auch kreativ nutzen zu können«.

Warum der »alte« Journalismus das bislang nicht leistet, wird nicht explizit erwähnt. Ebensowenig wird mitgeteilt, warum dem bereits in die Jahre gekommene Marketingversprechen (»IoT wird die Welt verändern«) offenbar unkritisch gefolgt wird. Zudem bleibt unklar, was genau unter dem »Internet der Dinge« überhaupt verstanden werden soll. Dass Satelliten und Sprachassistenten dazu gezählt werden, ist zumindest ein eigenwilliges Verständnis.

Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit

Nach der Einleitung folgen zehn Thesen, durch die sich ein Motto zieht: »Dinge« fungiert als Platzhalterbegriff für verschiedenste Aspekte und Ansätze im Journalismus. So wird gleich in der ersten These — »Dinge vermitteln die Welt« — deutlich: Im Wesentlichen geht es bei dem »Journalismus der Dinge« darum, was bereits seit nunmehr zehn Jahren als »Datenjournalismus« und »Sensorjournalismus« bekannt ist. So heißt es in besagter These: »Jeden Tag erheben Sensoren Massen von Daten.« Wenig später geht es dann unvermittelt weiter: »Dinge sind eine neue Hardware des Journalismus.« Was wenig Sinn ergibt, wenn etwa Satelliten und Kameras zu diesen »Dingen« zählen: Diese existieren seit vielen Jahrzehnten und finden schon lange unter anderem für journalistische Zwecke Einsatz .

»Dinge übernehmen Verantwortung« ist die zweite These betitelt. »Maschinen treffen zunehmend automatisch Entscheidungen«, wird dort behauptet. Das kann man so sehen — es ist aber hoch umstritten, weil damit die Auftraggeber*innen, Entwickler*innen und Betreiber*innen der Maschinen aus der Verantwortung entlassen werden. Oder hat das VW-Auto »entschieden«, bei der Abgasprüfung zu betrügen? Wahrscheinlich meinen es die Autor*innen gar nicht so, denn am Ende der These wird angeführt, dass Journalismus »Verantwortung den richtigen zuzuweisen« können soll. Was wiederum mit der Überschrift der These nicht zusammenpasst, weil es offenbar doch nicht per se die Dinge sind, die die Verantwortung übernehmen.

Solcherart Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit zieht sich durch alle zehn Thesen. Mal sind Dinge die Interfaces von Smartphones, dann gibt es »Journalismus-Dinge« und andere Dinge sind dann wiederum Ausspielkanäle. Es scheint so, dass in den Thesen verschiedenste Versatzstücke aus anderen Konzepten und Methoden zusammengerührt werden: Neben Daten- und Sensorjournalismus finden sich Aspekte von »Algorithmic Accountability Reporting« und »Citizen Journalism« wieder. Und nicht zuletzt redet das Manifest von den allgemeinen Potentialen und Charakteristika des reinen Journalismus ohne Präfix und Zusatz. Dabei kommt ein Brei heraus, der in Teilen missverständlich oder schlicht unvollständig bzw. unverständlich ist: »Wenn die vernetzte Barbie mit Kindern Weltpolitik diskutiert, wenn der Radfahrer seine Daten mit der Redaktion teilt, werden Leser Teil der Recherche.« Aha.

Letztlich bleibt der Eindruck zurück, dass die Autor*innen des Manifests im »Journalismus der Dinge« einen Tausendsassa sehen wollen. Doch weder über seine Identität noch seine eigene Geschichte ist man sich im Klaren. Vielleicht gelingt es der zweiten Version des Manifests, dies klarer zu fassen.

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